Von der französischen Autorin Colette hatte ich bis letztes Jahr noch nie gehört. Doch dann wurde sie in mehreren Büchern, die ich las, erwähnt, oder aus ihren Werken wurde zitiert. Das machte mich neugierig. Ich googelte sie und war sofort gespannt auf ihre Romane. Colette, eigentlich Sidonie-Gabrielle Colette, geboren 1873, gestorben 1954, war eine sehr erfolgreiche, feministische und auch skandalträchtige Autorin. Sie wurde von ihrem ersten und viel älteren Ehemann, der ebenfalls Schriftsteller war, dafür missbraucht, für ihn unter einem Pseudonym Romane zu schreiben. Als sie sich von ihm scheiden ließ, lebte sie eine Weile offen mit einer Frau zusammen, heiratete ein zweites Mal und ließ sich dann auf eine Affäre mit ihrem halb so alten Stiefsohn ein. Auch ein späterer Liebhaber war wesentlich jünger als sie.
Es gab kaum ein Tabu, das Colette zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht brach. Sie war das Enfant terrible der Belle Epoque, eine Salonlöwin, der Konventionen verhasst waren, und sie schrieb über weibliche Sexualität. Die katholische Kirche setzte ihre Werke auf den Index. Selbst von der eigenen Mutterschaft wollte Colette sich nicht einengen lassen und gab deshalb ihre Tochter in ein Internat.
Als zweite Frau überhaupt wurde sie Mitglied der Académie Concourt und erhielt nach ihrem Tod sogar ein Staatsbegräbnis: Über 6000 Frauen defilierten an ihrem Sarg vorbei. Und das ist nur eine sehr stark verkürzte Version ihres ereignisreichen Lebens.
Liebesbeziehung oder Mutter-Sohn-Verhältnis?
Ich besorgte mir den vielgelobten Roman „Chéri“ in einem Antiquariat (Gottseidank hat der Hanserverlag zwischenzeitlich den Roman wieder neu aufgelegt). In „Chéri“ geht es vordergründig um die Beziehung einer in die Jahre gekommenen Kurtisane, Léa de Lonval, zu einem verwöhnten und halb so alten Schönling namens Fred Péloux, der von allen aber meist Chéri genannt wird. Beider Verhältnis spielt auf einem schmalen Grat zwischen Liebes- und Mutter-Sohn-Beziehung. Manchmal behandelt Léa ihn wie ein Kind: „Sie putzte ihm die Ohren, zog den feinen, bläulichen Scheitel nach, der Chéris schwarzes Haar teilte, betupfte seine Schläfen mit einem parfumbenetzten Finger…“, und manchmal behandelte sie ihn wie ihren Liebhaber – und so geht der oben zitierte Satz auch folgendermaßen weiter: „und weil sie nicht widerstehen konnte, küsste sie flüchtig den verlockenden Mund, der so dicht vor ihr atmete.“ Dabei hat der junge Mann sehr wohl eine leibliche Mutter, die aus demselben Milieu wie Léa stammt und noch dazu zu ihren Freundinnen zählt. Allerdings ist die Beziehung der beiden Frauen nicht nur herzlich, sondern auch geprägt von Konkurrenz und gegenseitiger Abhängigkeit.
Léa kennt Chéri schon seit Kindertagen. Seit er 19 Jahre alt ist, lebt er mit ihr in ihrer komfortablen Pariser Wohnung. Im Roman also bereits seit 6 Jahren. Zur damaligen Zeit war es wohl nicht unüblich, dass junge Männer sich für eine Weile an eine erfahrene ältere Frau hielten, um erotische und sexuelle Erfahrungen zu sammeln, bevor sie dann eine junge, standesgemäße Frau heirateten. Natürlich wäre es ein großes gesellschaftliches Tabu, wenn nicht gar eine Unmöglichkeit gewesen, mit solch einer älteren Frau eine dauerhafte Liebesbeziehung einzugehen oder sie gar zu heiraten. Sowohl Léa als auch Chéri sind sich darüber im Klaren, dass ihre Beziehung enden wird, wenn Chéri sich verheiratet.

Edmée heißt denn auch die blutjunge Braut, die Chéris Mutter für ihn ausgesucht hat. Die Heirat der Beiden wird wie ein Geschäft zwischen den Müttern der Brautleute ausgehandelt. Chéri fügt sich. Und auch Léa will dem Glück der jungen Leute nicht im Wege stehen und entscheidet sich dafür, ihr eigenes Glück mit Chéri nicht durchzusetzen, obwohl ihr immer deutlicher wird, dass sie Chéri liebt:
„Selbstsicher lächelte sie auf ihn herab, doch sie wusste nicht, dass etwas auf ihrem Gesicht zurückgeblieben war, ein ganz schwaches Zittern, ein verführerischer Schmerz, und dass ihr Lächeln jenem Lächeln glich, dass auf einen Weinkrampf folgt.“
Chéri, der ähnlich fühlt wie Léa, ist enttäuscht darüber, dass die bevorstehende Hochzeit kaum Reaktionen bei Léa provoziert.
Um dem Schmerz der Trennung von Chéri zu entfliehen, reist Léa an einen für die anderen unbekannten Ort und lässt diese in dem Glauben, sie habe einen neuen Liebhaber. Währenddessen findet sich Chéri nach seiner Hochzeit in der Beziehung mit einer viel jüngeren Frau wieder, mit der er eigentlich nichts anzufangen weiß. Er vermisst Léa und erklärt einem Freund:
„Wir haben uns sehr nobel, als sehr gute Freunde getrennt. Es konnte nicht das ganze Leben so weitergehen. Was für eine charmante, kluge Frau, alter Freund … Eine Großzügigkeit im Denken… Sehr bemerkenswert. Mein Lieber, ich gebe zu, wenn da nicht die Frage des Alters gewesen wäre. Aber da war eben die Frage des Alters…“
Als Léa zurückkehrt nach Paris, erfährt auch Chéri davon. Er besucht sie eines Abends in ihrer Wohnung, und beide verbringen die Nacht miteinander. Doch das bedeutet keineswegs ein Happend für die beiden Liebenden. Vielmehr erkennt Chéri, dass die Frau, nach der sich so lange gesehnt hat, nur mehr nichts weiter als eine Erinnerung an vergangene Zeiten ist. Und obwohl Léa ihn eigentlich für sich zurückgewinnen will, schickt sie ihn doch zurück zu seiner Frau. Chéri verlässt das Haus, Léa beobachtet ihn vom Fenster aus und hofft, dass er zu ihr zurückkehren wird, während Chéri im Freien erst einmal tief durchatmet und sich fühlt wie ein Entkommener.

Fazit
Der Roman ist ein sinnlicher Reigen, der einen Blick auf die französische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirft. Colette beschreibt die Natur in ihrem Buch als irdisches Paradies. Ihre Figuren erscheinen überzeichnet, aber auch schön und poetisch, fast ein wenig wie aus einer Götterwelt entnommen. Auch auf die Beschreibung von Kleidung, Stil und Interieur legt Colette großen Wert: Alles erscheint lustvoll, farbenreich und opulent – auch ihre Sprache.
Über das Altern
Colettes Werk besitzt aber auch eine tieferliegende Ebene, in der es ums Altern (Léa) und ums Erwachsenwerden (Chéri) geht. Da Colette im selben Alter wie Léa war, als sie den Roman schrieb, lohnt sich ein detaillierter Blick auf die Figur der Léa. Es liegt nahe, dass Colette sich im Roman mit ihrem eigenen Altern auseinandersetzt:
„Mit 49 Jahren beendete Léonie Vallon, genannt Léa de Lonval, ihre erfolgreiche Karriere als begüterte Kurtisane und gutherziges Mädchen, dem das Leben schmeichelhafte Katastrophen und edlen Kummer erspart hatte. Sie verheimlichte das Datum ihrer Geburt; doch bereitwillig gestand sie, … dass sie allmählich in ein Alter kam, in dem man sich ein paar kleine Annehmlichkeiten gönnt. Sie liebte die Ordnung, schöne Wäsche, ausgereifte Weine und wohldurchdachte Küche.“
Léa passt sich an den Status-quo an. Sie genießt das Leben weiterhin, wenn auch der Genuss ein anderer ist als in jungen Jahren. Sie empfindet ihren 49-jährigen Körper immer noch als lustvoll:
„Sie konnte ihn noch vorzeigen, diesen großen, weißen, leicht rosa schimmernden Körper mit den langen Beinen und dem flachen Rücken, wie man sie bei den Nymphen auf den italienischen Brunnen sieht.“
Aber sie ist sich auch darüber im Klaren, dass das bald nicht mehr so sein wird:
„Alles in allem kann ich mit einer Diät und einer sorgfältig aufgefrischten Hennatönung noch gut und gern vorgeben, um zehn, – na ja, sagen wir mal fünf Jahre…“
Der Druck, gut auszusehen, ist für sie so lange stark, wie sie ihrem halb so alten Liebhaber gefallen möchte; dabei steht sie auch noch in Konkurrenz zu seiner 19-jährigen Frau. Aber ihr jugendlicher Liebhaber versorgt sie auch mit der Energie, sich weiterhin jung zu fühlen. Am Ende des Buchs, als Chéri sich von Léa abwendet, bricht diese Energie zusammen, und ihr wahres Selbst erscheint in neuem Licht:
Der Sonnenstrahl fiel jedoch auch auf ihre großen, wohlgeformten Hände und ziselierte in die erschlaffte, zarte Haut am Handrücken und um das Handgelenk herum komplizierte Netzgewebe, konzentrische Furchen, winzige Parallelogramme, wie sie die Trockenheit nach Regenfällen in den Lehmboden gräbt.“
Fortsetzung folgt
Wie Léa mit dem fortschreitenden Alter umgeht, ob es ein Comeback ihrer Liebe zu Chéri gibt und wie Chéri nach seinem Fronteinsatz im 1. Weltkrieg zurück in ein normales Leben bei seiner Ehefrau gehen muss – das alles kann man in Colettes Fortsetzung „Chéris Ende“ lesen. Ja, und der Titel ist Programm.