Friedhofsweg

Memento Mori

Immer wenn es dunkel wurde, sah man die flackernden Lichter hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite. Manchmal ganz viele, manchmal nur vereinzelt. Wenn ich schon im Schlafanzug war, stellte ich mich oft ans Fenster, um für fünf Minuten in Richtung Friedhof zu schauen und bildete mir ein, dass dieses Flackern der vielen Grablichter eine Art Morsezeichen der Toten sei, um mit mir zu kommunizieren. Stets bemühte ich mich, diesen unheimlichen Code zu verstehen und stets bekam ich ein bisschen Angst, weil es mir nie gelang. Wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass die Toten mir böse seien, weil ich ihre Botschaft einfach nicht verstand. Da half nur, schnell ins Bett zu krabbeln, die Decke bis unter das Kinn zu ziehen und dass meine Mutter, die Türe einen Spalt weit offenstehen ließ, damit ich mich wieder sicher fühlte.

Der Friedhof war in meiner Kindheit allgegenwärtig. Nicht nur, dass ich ihn von meinem Zimmer aus sehen konnte, immer, wenn ich mit den Nachbarskindern am Bach oder auf dem Waldspielplatz spielen wollte, stapften wir durch den Friedhof, weil das der kürzeste Weg dorthin war. Manchmal beschlossen wir auch, dass wir uns fortan, um die Gräber kümmern wollen, die verwahrlost aussehen. Dann wurde Gieskanne um Gieskanne voller Wasser herangetragen und auf die kümmerlichen Pflanzenreste verteilt, auf dass daraus, ob unseres heldenhaften Einsatzes, wieder die schönsten Pflanzen sprießen. Manchmal war uns klar, dass Wasser allein wohl nicht genügen würde, um ein Grab wiederzubeleben, dann streiften wir durch die Grabreihen auf der Suche nach opulent und frisch bepflanzten Grabstätten. Diese mussten dann ein paar Pflanzen hergeben, damit die anderen wieder ein bisschen schöner wurden. Von wegen Solidarität und fällt ja sowieso nicht auf.

Auch Grabgestaltung unterliegt dem Zeitgeist

Ich glaube, damals habe ich meine morbide Faszination für Friedhofe gleich mitangelegt. Seither besuche ich überall, wo ich auch bin, die Begräbnisstätten des jeweiligen Ortes: die geometrisch geordneten, genauso wie die mit Plastikblumen geschmückten, die alten wie die neuen, die christlichen, die jüdischen, die muslimischen. Und seit 2 Jahren wohne ich auch wieder sehr nahe an einem wunderschönen Friedhof, der in einen Wald eingelassen ist. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf einer Anhöhe angelegt und wenn man durch die Felder und Reihen schlendert, kann man ganz gut erkennen, wie sich der Zeitgeist in Sachen Grabstätten-Gestaltung verändert hat.

Die ältesten Gräber sind oft monumental angelegt für die ehemals gut betuchten Bürger der Stadt: Riesige Grabsteine aus Granit und Marmor, die meist den Patriarchen der Familie zuoberst namentlich aufführen – oft mit Doktortitel oder anderen wichtigen Bezeichnungen für die Stellung in der Stadtgesellschaft. Standesgemäß stehen unter dem Patriarchen und Namenspatron des Grabes dann die Ehefrau, die Geschwister, die Kinder. Erstaunlich oft sind diese Gräber gut gepflegt; die Nachkommenschaft ist wahrscheinlich weiterhin gut im Ort etabliert. Manche dieser Gräber sind jedoch kaum auszumachen, weil das Moos und die Bepflanzung auf dem Grab wuchern dürfen wie sie wollen: der alte Glanz hat sich nicht auf die nächsten Generationen übertragen.

Die Rolle der Frau in den 50er- und 60er Jahren

In den 50er- und 60er-Jahren, so mein Eindruck, wurden die Gräber nüchterner und weniger individuell ausgestattet. Kaum noch ein Grabstein verrät, welche gesellschaftliche Stellung der Begrabene hatte. Auffällig ist aber, wie die Rolle der Frau damals gesehen wurde: Unzählige Gräber von Ehepaaren sind mit einem Grabstein versehen, der der Frau des Hauses noch nicht mal einen Namen zugesteht. Da steht dann „Familie Klaus Schmidt“ oder „Ehepaar Hans Müller“. Ende der 60er Jahre finde ich die ersten Gräber mit einer individuelleren Note. Sie zeigt sich oft in abstrakt behauenen Grabsteinen.

Die Individualisierung schreitet in den folgenden Jahrzehnten weiter voran: In den 80er- und 90-er Jahren gibt es plötzlich Fotos der Verstorbenen auf dem Grabstein. Oder Gravuren darin, die nicht länger Alpha und Omega, eine Taube, eine Rose, betende Hände, Engel, Kreuze oder ähnliches darstellen. Überhaupt sehe ich weniger christliche Motive. Jetzt gibt es Gravuren, die das Hobby oder die Leidenschaft des Verstorbenen darstellen: ein Wohnmobil, ein Segelschiff, ein Klavier, ein Motorrad oder das Fortuna-Vereinslogo. Die neuesten Gräber haben individuelle Grabsteine, die jetzt oft auch gar nicht mehr aus Stein sind, sondern aus Holz oder Terrakotta (Heißen sie dann immer noch Grabsteine?), manche sehen so aus als ob sie von einem Angehörigen selbst gemeißelt wurden – oder gar vom Toten selbst, bevor er verstarb? Und es gibt jetzt Rasenfelder, in denen die Urnen ohne sichtbare Kennzeichnung vergraben liegen. Nur eine Stele mit den Namen aller dort bestatteten Toten gibt grob Auskunft darüber, wer unter dem grünen Rasen seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Manchmal stehen die Namen der Toten auch auf Pflastersteinen, die den Rand eines Weges durch ein solches Rasenfeld markieren. Und da sind auch die Felder, die nicht einmal mehr den Namen des Verstorbenen zeigen – die anonymen Grabfelder. Mit ihnen kann ich nur wenig anfangen, weil es nichts gibt für mich, mit dem ich eine Verbindung herstellen kann.

Ich sitze im Sommer sehr viel im Friedhof. Dort habe ich „meine“ Schattenbank zum Lesen, wenn es heiß ist. Wenn ich dann doch ins Schwitzen geraten sollte, halte ich meine Beine einfach unter den Wasserhahn ein paar Meter weiter. Und auch eine Sonnenbank habe ich, wenn ich mich mal aufwärmen möchte. Ich variiere meine Wege durch den Friedhof und begrüße stets die Toten, die ich passiere und die mir wegen irgendeines Details im Gedächtnis geblieben sind. Und weil ich so oft im Friedholf bin, fällt mir auf, wenn ein Toter hinzugekommen ist, wenn Gräber anfangen sich abzusenken oder wenn Botschaften der Friedhofsverwaltung oder von Angehörigen an Gräbern hinterlassen werden.

Weil mir bei jedem Besuch so viele Dinge auffallen, werde ich diese in nächster Zeit an dieser Stelle aufschreiben. Aber keine Angst: Das wird KEIN Friedhofsblog!