Blaue Stunden auf Sylt

Vom Bleiben und Gehen: Joan Didion´s „Blaue Stunden“

Wahrlich keine einfache Lektüre ist Joan Didion´s Buch „Blaue Stunden“. Auf 137 Seiten schreibt Didion vom Verlust ihrer erwachsenen Adoptivtochter, Quintana Roo. Aber diese Seiten sind so angefüllt von Erinnerungen und Reflexionen zu dieser Mutter-Tochter-Beziehung, vom Leben und vom Tod, dass ich mich beim Lesen so gefühlt habe, als hätte ich mich durch ein hunderte Seiten langes Werk gelesen – aber im besten Sinne. Oft war ich den Tränen nahe, oft habe ich Textstellen mehrmals gelesen. Joan Didion kann in kleinen Halbsätzen Erkenntnisse, wie man sie eigentlich nur nach einer langjährigen Therapie oder einem erfahrungsreichen Leben gewinnen kann, formulieren.

Wie begegnet man Tod und Alter?

Die Amerikanerin war einst Redakteurin der Vogue, politische Kommentatorin, Autorin brillanter Essays und einiger Romane. Zusammen mit ihrem Mann, John Gregory Dunne, schrieb sie mehrere Drehbücher für Film und Theater. Das Paar war eine feste Größe in Hollywood. Bereits den Tod ihres Mannes hat sie in dem Buch „Das Jahr des magischen Denkens“ verarbeitet. Und auch den Tod ihrer Tochter betrauert sie schreibend. Aber in die „Blauen Stunden“ geht sie einen Schritt weiter: Neben die Erinnerungen an die Tochter stellt sie ihr eigenes Verhalten im Umgang mit der Tochter als Baby und als Heranwachsende in Frage. Zur Trauer um das eigene Kind gesellt sich zudem die Frage nach dem eigenen Vergehen und Tod. Kurz formuliert: Es geht es darum, wie schwer es den Menschen fällt, dem Alter und dem Tod bewusst zu begegnen. Dem von nahestehenden Menschen und dem eigenen.

Das Buch folgt keiner Chronologie, sondern scheint getrieben durch die mäandernden Erinnerungen und Gedanken der Autorin, die mal zu dem Tag schweifen, an dem die Tochter geboren wurde, mal zu ihrer Hochzeit, mal zu Schulgedichten, die die Heranwachsende geschrieben hat. An einer Stelle beschreibt Didion auch, dass sie viele kleine Dinge der Verstorbenen, die ihr nahestanden, in Boxen aufbewahrt. Dinge ihrer Mutter, ihres Mannes und natürlich auch ihrer Tochter. Ich habe mir vorgestellt, dass sie, während sie an dem Buch arbeitete, immer wieder eine dieser Boxen aufgemacht hat und damit eine neue Erinnerung zutage förderte, die sich dann mit einem Gedanken verbunden hat und dieser dann als Satz in ihr Buch floss. Sie selbst sagt über diese Sammlung: „Sie dienen nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.“

Erinnerungsstücke zum Anfassen und in Gedanken

Aber nicht nur die Erinnerungsstücke in Boxen, sondern auch bestimmte Daten lassen Joan Didion umherschweben in Erinnerungsfetzen und Gedankengängen. Zum Beispiel ist der Hochzeitstag ihrer Tochter am 26. Juli, eine sehr prägende Erinnerung. Wenn sie sich an die Hochzeit ihrer Tochter erinnert, sieht sie immer eine bestimmte Blume vor sich, eine Stephanotis, die an diesem Tag im Zopf ihrer Tochter eingeflochten war. Diese Blume führt sie zurück in den Garten der Familie, als diese im kalifornischen Brentwood lebte. Mit jenem Haus verbindet Didion sehnsuchtsvolle Erinnerungen an ihre pubertierende Tochter und ihre Heimat am Meer, bevor sie sich in New York niederließen.

Stephanotis

So sieht also eine Stephanotis aus

Joan Didion schaut auf das Leben ihrer Tochter zurück, bleibt dabei aber immer diskret und stellt sie niemals bloß. Schonungslos offen ist sie nur, wenn es um ihr eigenes Verhalten geht. Sie fragt sich voller Selbstzweifel, ob sie die Borderline-Störung ihrer Tochter früher hätte erkennen müssen oder ob sie ihr die Adoption anders oder besser hätte erklären können. Didion schildert ihren Schmerz ganz ohne Pathos und Rechtfertigungsdruck. Sie glaubt, dass ihre Tochter zu früh erwachsen wurde: Mit 5 Jahren ruft das kleine Mädchen in einer staatlichen Psychiatrie an, um zu fragen, was sie tun müsse, wenn sie verrückt werde, und bei Twentieth Century Fox, um herauszufinden, wie man ein Star wird.

Die niedergeschriebene Trauer wird zum Nachruf auf das eigene Leben

Die Angst vor dem Altwerden, das Altwerden selbst, erscheinen zuerst nur ein Nebenthema des Buchs zu sein – Joan Didion ist Mitte siebzig, als sie das Buch schreibt –, aber schnell wird klar, wie sehr dieses Motiv auch mit der Trauer um ihre Tochter zusammenhängt: Didions eigene Geschichte kann nur noch im Rückblick erzählt werden. Krankheit, Tod und Schicksalsschläge führen dazu, dass das Leben nicht mehr sicher ist. Der eigene Körper versagt den Dienst, obwohl sie sich selbst noch als jünger erlebt: „Ein Arzt, mit dem ich gelegentlich spreche, behauptet, dass ich mich nur unzureichend auf das Altwerden eingestellt habe. Falsch, möchte ich sagen. Eigentlich habe ich mich überhaupt nicht auf das Altwerden eingestellt.“ Auch das Namedropping wichtiger Hollywoodgrößen im Text, mit denen Didion einst zusammenarbeitete, erscheint nur noch als Who-is-who der Verstorbenen und fast Vergessenen.

Joan Didions Buch bietet keinen Trost, um die Herausforderungen und die Endlichkeit des Lebens besser zu meistern. Die untröstliche Autorin erzählt vielmehr von ihren Erinnerungen, obwohl sie ihrer längst überdrüssig ist. Aber indem sie sich erinnert, bewahrt sie diese Erinnerungen. Der Preis fürs verzweifelte Weiterleben und Weitermachen ist hoch: „Eine Formulierung, die mir in dieser Nacht in den Sinn kam, war „sich zwingen“. Eine andere lautete: „jenseits des Erträglichen“. Ein Trost ist vielleicht nur, dass sie ihre Ängste und ihre Trauer ausspricht und man sich mit dem Unaussprechlichen nicht alleine fühlt.

„Blaue Stunden“ besticht durch seine klare, präzise Sprache und seine eindrücklichen Schilderungen. Es gibt Zitate, Gedichte und wiederkehrende Motive, die für Didions Verarbeitungsprozess wichtig sind – sie bilden einen Rahmen, der den Text zusammenhält. Und vielleicht auch Didion selbst.

Mein Fazit

Jeder, der schon einmal einen nahestehenden Menschen verloren und sich mit dem eigenen Altern auseinandersetzt, kann nachvollziehen, wovon Didion schreibt. Didions Text ist zwar nicht tröstlich, aber „relatable“. Ich fühlte stets mit ihr, nahm Anteil und konnte ihre Gedanken nachvollziehen. Jeder und jede wird eines Tages einen wichtigen Menschen verlieren, und all jene, die das Altern erleben, werden sich mit dem eigenen Vergehen auseinandersetzen müssen. Früher oder später. 

Ein Wort noch zum Titel

Und hier lasse ich Joan Didion am besten selbst sprechen: „Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit, in diesem Moment stellt man zunächst fest: Das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei. Dieses Buch heißt ‚Blaue Stunden‘, weil ich mich in der Zeit, als ich es zu schreiben begann, gedanklich immer stärker der Krankheit zugewandt habe, dem Ende des Versprechens, den kürzer werdenden Tagen, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes. Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten.“