Warum ich amerikanische Romane so liebe – zum Beispiel „Die Kunst des Feldspiels“ von Chad Harbach

Great American Novel – das ist oft das Signalwort für mich, wenn ich auf der Suche nach einem Buch bin, das ich gerne als nächstes lesen würde. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entscheide ich mich für ein Buch, wenn „Great American Novel“ in der Kurzbeschreibung auftaucht. Und noch bevor ich den Begriff überhaupt kannte, habe ich bemerkt, dass ich mich in der Atmosphäre eines Buchs am wohlsten fühle, wenn der Autor in den USA aufgewachsen ist. Natürlich habe ich mich auch gefragt, warum das eigentlich so ist.

Um eine Antwort darauf zu finden, bin ich noch einmal zum Begriff der „Great American Novel“ zurückgekehrt. Ohne jetzt einen literaturwissenschaftlichen Diskurs lostreten zu wollen, habe ich Wikipedia bemüht. Dort steht: „Das Konzept der Great American Novel steht in Zusammenhang mit dem romantischen Paradigma der Nationalliteratur, also der Vorstellung, dass sich das Wesen einer Nation exemplarisch in ihrer Literatur manifestiere.“ Klingt erstmal ziemlich gruselig für mich: „Nationalliteratur“ und „Wesen einer Nation“ empfinde ich eher als abschreckend. Eine für mich gelungenere Definition habe ich dann in einem Artikel der Los Angeles Times gefunden:

„The Great American Novel: A book that most perfectly imagines the kaleidoscope of our nation, its social fabric and its troubled conscience, its individual voices and strivings, our loves and losses.“

Los Angeles Times, 30.06.2016

Das klingt weniger nach Heroismus, sondern ist viel differenzierter. Und an diese Definition docken dann tatsächlich auch die Empfindungsrezeptoren in meinem Hirn an, die Erinnerungen an all jene US-amerikanischen Bücher gespeichert haben, die ich bisher so gerne gelesen habe. Interessant ist übrigens in diesem Zusammenhang auch die Liste der LA-Times-Kritiker, die im selben Artikel ihre persönliche Great American Novels vorstellen. Dort finden sich so wunderbare Bücher wie:

  • Harper Lee – Wer die Nachtigall stört
  • Maxine Hong Kingston – Die Schwertkämpferin
  • Toni Morrison – Solomon´s Lied

Die Great American Novel bietet Raum für Interpretation

Was mir auch klar wird: Eine Great American Novel (GAN) ist eher so etwas wie das Ideal eines Buchtypus‘, das wahrscheinlich immer nur annähernd erreicht werden kann; und jede Zeit bringt ihre eigenen Great American Novels hervor. So zählen „Der große Gatsby“ und „Moby Dick“ natürlich auch zu den Klassikern dieses Genres. Auch die Herkunft und das Anliegen des Autors haben Einfluss auf die Ausprägung der GAN. Die Definition lässt für die Leser*innen auf jeden Fall eine Menge Spielraum, selbst zu entscheiden, was für sie eine gelungene GAN ist.

Ich habe kein Buch als DIE Great American Novel nominiert. Mir genügen all die großartigen Anwärter, in denen ich die Weite des Landes erleben kann, die Vielfalt der Kulturen, diesen American Way of Life, der so vieles möglich macht – oder eben nicht. Und ich merke beim Schreiben, dass es in einem Land, in dem es oft um Perfektionismus, Gewinnermentalität und das Streben nach Glück geht, es gerade die Geschichten von vermeintlichen Losern, Abgehängten und Unglücklichen sind, die mich kriegen.

„Die Kunst des Feldspiels“ von Chad Harbach

Ein sehr amerikanischer Roman ist für mich „Die Kunst des Feldspiels“ von Chad Harbach. Wie der Titel schon verrät, geht es um Sport. Genauer gesagt um eine sehr amerikanische Sportart, nämlich um Baseball. Baseball dient Harbach aber nur als Metapher für eine komprimierte Form des Lebens. Eigentlich geht es ums Gewinnen und Verlieren; darum, wie man mit dem eigenen Scheitern umgeht. Es geht um Liebe und Freundschaft. Und es geht auch um Kultur und Bildung. Ein ganz schön großes Paket, dass Chad Harbach seinen Leser*innen da zumutet. Aber er schafft es, diese Themen mit Leichtigkeit zu verweben, ohne das Buch zu überfrachten.

Im Mittelpunkt seines Romans steht der junge Henry Skrimshander, ein hochbegabter, wenngleich unscheinbarer und schüchterner Shortstop, der aus einfachen Verhältnissen stammt und dem, wie so oft in Film und Literatur, ein Sportstipendium den Weg aus der Provinz ebnet. Er wird in der Mannschaft des Wetish College, den Harpooners, aufgenommen und zu deren Hoffnungsträger. Monatelang macht Henry nicht einen Fehler, er funktioniert wie ein Uhrwerk. Doch dann verunglückt ihm ein Routinewurf auf fatale Weise, und dies verändert das Leben von fünf Menschen schlagartig.

Henry, der zuvor niemals scheiterte, trägt schwer an seinem Fehler: Der Selbstzweifel wird zu seinem größten Feind. Er sucht verzweifelt nach seiner alten Leichtigkeit, die ihn bisher so mühelos durchs Leben getragen hat, und er muss lernen, sich selbst zu verzeihen und seinem Leben eine neue Richtung zu geben.

Mike Schwartz, Henry´s Mentor vom Typ „harter Kern, weiche Schale“, sieht plötzlich, dass er sich Henry zuliebe selbst aufgegeben hat und seine Karrierepläne, die er wegen eines kaputten Knies nicht realisieren konnte, auf Henry projiziert hat.

Owen Dunne, der schwule Mitbewohner und Freund von Henry, ist der Ruhepol und Feingeist in der Geschichte. Er gibt mit seiner gefestigten und grundsympathischen Art der Geschichte nochmal auf eigene Art Schwung und Tiefgang.

College-Präsident Guert Affenlight, die einzige Person in schon fortgeschrittenem Alter, verleiht der Geschichte Reife und führt die Leser*innen durch den einen oder anderen literarischen Diskurs. Die zarte Liebesgeschichte um Affenlight gibt der Geschichte einen weiteren Spin.

Und dann ist da noch Pella, die Tochter von Guert Affenlight, deren Ehe am Ende ist und die feststellen muss, dass die Affäre mit einem anderen nicht hilft, um mit dem eigenen Leben wieder zurechtzukommen.

Fazit

Chad Harbach hat eine großartige Geschichte über das Leben geschrieben. Über das Gewinnen und Scheitern, über Perfektion und Zweifel, über sich treu bleiben, sich verlieren und sich neu erfinden. Dabei setzt er auf eine einfache, aber niemals triviale Sprache, mit der man sich schwerelos durch die Handlung vorwärts bewegt, aber auch an den Stellen verweilen kann, für die man sich einen Moment Zeit nehmen will. Dass ich mich überhaupt nicht mit Baseball auskenne, hat meinen Genuss nicht getrübt.

Der einzige Kritikpunkt, den ich anführen kann, ist, dass Pella für mich in der Geschichte etwas unterbelichtet bleibt. Sie hätte mehr Aufmerksamkeit von Harbach verdient. Noch dazu, wo sie die einzige weibliche Figur im Buch ist. Trotzdem: „Die Kunst des Feldspiels“ ist große Literatur. Eine Great American Novel so richtig nach meinem Geschmack. Ich hoffe, dass Harbach nach seinem tollen Debüt bald einen neuen Roman vorlegt.

Und an dieser Stelle stelle ich bestimmt bald wieder eine Great American Novel vor.

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